Claudia Major
interview

Expertin Major in den tagesthemen "Russland hat kein Interesse an Verhandlungen"

Stand: 25.09.2024 10:12 Uhr

Morgen soll der Selenskyj-Friedensplan vorgestellt werden. Russland-Expertin Major spricht in den tagesthemen über Kernpunkte, Moskaus Reaktion - und darüber, was sie an der deutschen Politik "sehr, sehr irritiert".

tagesthemen: Der "Siegesplan" des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj soll ja erst am Donnerstag nach einem Treffen mit US-Präsident Joe Biden in Gänze bekannt werden. Aber Sie waren kürzlich in Kiew und haben ihn darüber sprechen hören. Was sind die zentralen Bereiche?

Claudia Major: Aus dieser Rede in Kiew und auch anderen Medienberichten lässt sich die Kernidee dieses Planes erkennen: Es soll ein "Victory Plan" sein, ein "Siegesplan", der de facto den Weg zu einer zweiten Friedenskonferenz am Ende des Jahres ebnen soll. Die erste Friedenskonferenz gab es im Juni in der Schweiz - und die Idee ist jetzt, eine zweite Friedenskonferenz mit russischer Beteiligung zu haben.

Claudia Major, Politikwissenschaftlerin, zu Erfolgschancen von Selenskyjs Friedensplan

tagesthemen, 24.09.2024 22:15 Uhr

Selenskyj hat gesagt: Russland wird wahrscheinlich erst dann einsehen, dass es den Krieg beenden muss, wenn es keine andere Wahl hat. Es muss militärisch mehr unter Druck gesetzt werden, um wirklich den Krieg zu beenden und ernsthafte Verhandlungen aufnehmen zu wollen. Und in diesem Friedensplan - dem "Siegesplan" - Selenskyjs geht genau darum.

Ein Element, das jetzt schon bekannt geworden ist, ist beispielsweise die Freigabe von weitreichenden westlichen Waffen. Angesprochen wird also, dass beispielsweise die Ukraine auf militärische Ziele in Russland zielen kann - wie Flugplätze oder Munitionsdepots. Und dass danach auch die Frage auf dem Tisch liegt, wie die Ukraine nach einem möglichen Kriegsende langfristig gesichert werden kann. Das ist die Frage von Sicherheitsgarantien, von einem möglichen NATO-Beitritt.

Das scheinen zwei zentrale Elemente zu sein: Wie kann man Russland wirklich unter Druck setzen? Durch weitere militärische Unterstützung. Und wie kann man dann langfristig die Sicherheit der Ukraine gewährleisten? Etwa über Sicherheitsgarantien.

Claudia Major
Zur Person

Dr. Claudia Major leitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Sie ist Lehrbeauftragte am Institut d'Etudes Politiques/Sciences Po Paris und Mitglied im "Beirat zivile Krisenprävention" des Auswärtigen Amtes.

tagesthemen: Und ist zu erwarten, dass US-Präsident Biden, dem dieser Plan am Donnerstag präsentiert wird, sich dann auch in diesem Sinne für die Ukraine einsetzt?

Major: Ganz ehrlich, das wissen wir nicht. Wenn er das tatsächlich machen sollte, also wenn er die militärische Unterstützung hochfahren würde - es ist auch noch die Rede von einer engeren Kooperation mit der ukrainischen Rüstungsindustrie - und wenn er tatsächlich sich positiver zu einem NATO-Beitritt äußern würde, dann wären das politisch enorm starke Signale auch an die anderen westlichen Unterstützerstaaten, auch an die Europäer: Dass man jetzt noch mal die Kräfte bündelt, dass man jetzt noch mal eine sehr starke Unterstützung für die Ukraine auf den Weg bringt.

Denn die Lage gerade vor Ort in der Ukraine ist katastrophal. Das sieht man ja aktuell mit den Angriffen auf Charkiw. Russland eskaliert jeden Tag weiter und zerstört auch jeden Tag weiter die Lebensgrundlagen der Bevölkerung. Der Warnruf, den Präsident Selenskyj gemacht hat, der ist sehr, sehr dringend.

tagesthemen: Aber nach dem, was bis jetzt bekannt ist: Wie stehen denn die Chancen, dass mit diesem Plan Russland dann auch zu Verhandlungen zu bewegen ist?

Major: Russland hat überhaupt kein Interesse daran. Es gibt Äußerungen von Kremlsprecher Peskow, der sagt: Die "Spezialoperation" muss zu Ende geführt werden. Die Sprecherin des Außenministeriums hat auch gesagt, dass es kein Interesse von russischer Seite gibt, an der Friedenskonferenz oder an anderen Konferenzen teilzunehmen. Und sie hat noch mal auf den Plan von Putin verwiesen, den er im Juni veröffentlicht hat: Er beinhaltet unter anderem, dass die Ukraine die vier Gebiete, die Russland annektiert hat - Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson - als russisch anerkennen muss.

Putin hat auch noch mal von "Denazifizierung" gesprochen, also einem Elitenwechsel, einem Systemwechsel in der Ukraine und einer Demilitarisierung. Darunter versteht Russland eine Absage an eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, eine Neutralität und eine Begrenzung der ukrainischen Streitkräfte, dass sie sich de facto nicht mehr verteidigen können. Das heißt, Russland hält an diesen Bedingungen fest, die de facto eine Kapitulation, ein Diktatfrieden für die Ukraine wären.

Also, momentan spricht gar nichts dafür, dass Russland ein Interesse hat, den Krieg zu beenden. Und noch mal: Wenn wir uns die Angriffe der letzten Tage ansehen, eskaliert Russland jeden Tag weiter.

tagesthemen: Und vor diesem Hintergrund: Wie passt denn dazu die gerade wieder wiederholte Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz, nach wie vor keine Freigabe für den Einsatz bestimmter deutscher Waffen auf russischem Gebiet zu geben?

Major: Ich finde das sehr, sehr irritierend, weil bislang ja einer der Leitmotive der Bundesregierung waren, dass Deutschland immer im Verbund mit seinen Partnern handelt. Und diese Aussage jetzt zu treffen, bevor Selenskyj überhaupt seinen Plan vorgestellt hat und bevor sich andere Partner - die Amerikaner oder die Briten oder die Franzosen - geäußert haben, widerspricht doch eigentlich diesem Leitmotiv, dass man mit Partnern zusammen handelt.

Und vor allen Dingen gibt man damit ohne Not ein Druckmittel auf Russland aus der Hand. Man könnte ja auch signalisieren: Wenn Russland nicht aufhört, die ukrainische zivile Infrastruktur, die Energieinfrastruktur und Charkiw anzugreifen, dann könnten diese Waffen freigegeben werden. Also es ist eigentlich nicht nachvollziehbar, warum wir uns selber rote Linien setzen, während Russland immer weiter eskaliert.

In den letzten zweieinhalb Jahren haben wir auch gesehen: Selbst wenn sich die westlichen Staaten zurückgenommen und sich eigene Grenzen gesetzt haben - es hat Russland nicht daran gehindert, weiter zu eskalieren. Und dadurch entstehen Zweifel, ob dieser "Victory Plan" von Selenskyj wirklich umgesetzt werden kann, wenn die westlichen Reihen jetzt schon so auseinandergehen.

Das Gespräch führte Ingo Zamperoni in den tagesthemen. Für die schriftliche Fassung wurde das Interview leicht überarbeitet.